(Erschienen in: „Das Schatzkästlein des reinlichen Hausfreunds“)
Es ist noch dunkel, es ist Winter, erste Flocken fallen wie Asche vom Himmel. Unsere Schritte hallen vom toten Asphalt wider wie monotone Schläge gegen eine Ölwanne. Wir sind müde, wir gehen in Kolonnen und wir wissen, wir müssen sterben. Denn es ist 8 Uhr morgens, wir sind acht Jahre alt, und an der Kreuzung erwartet uns ein Mann mit einer Waffe. An meiner Seite höre ich Markus leise weinen. Er will nicht zur Verkehrserziehung, sagt er. »Ruhe!«, schreit die Lehrerin. Ich drücke Markus’ Hand. Halt durch, flüstere ich.
Der Polizist sieht aus, wie man als Polizist bei einer Verkehrserziehung aussehen muss: In seinen Augen steht der Hass. Ein Polizist macht diesen Job nicht freiwillig. Zur Verkehrserziehung wird man strafversetzt. Für uns ist das ein beunruhigendes Gefühl: Der gute Mann hat am Vorabend noch einem Falschparker die Atemwege zugeklebt, jetzt ist er hier. Und er will uns töten.
»Aufgepasst!«, keift der Polizist. »Wir üben heute das Überqueren einer Straße! Wer von euch hat schon einmal eine Straße überquert?!«
Leises Murren in den Reihen. Einige Finger recken sich zitternd in die Luft.
»Du da!«, schreit der Polizist und zeigt auf Martin. »Hierher!«
Martin geht entschlossen an den Straßenrand. Wir bewundern seinen Mut. Martin ist tough. Martin schaut dem Tod ins Gesicht und sagt: »Buh«. Martin hat cool die Daumen in die Jeans geharkt. Er tritt vor, und der Vulkan explodiert. Das Geschrei des Polizisten fegt über uns hinweg wie die Asche über Pompeji: »Hände aus der Tasche!« Martin schaut verdutzt.
»Wenn hier jetzt eine Bananenschale läge, hättest du keine Hand frei, um deinen Sturz abzufangen!« Wir fragen uns, wo die Polizei solche Menschen rekrutiert. Markus weint schon wieder.
»Da ist aber keine Schale«, mische ich mich ein.
Der Polizist: »Aber es könnte eine da sein!«
Ich: »Ist aber nicht!«
Er: »Könnte aber!«
»Ist aber nicht!«
»Könnte aber!«
»Ist aber nicht!«
»Schnauze!«, schreit der Polizist. Schnaubend dreht er sich wieder zu Martin: »Jetzt Hände raus und zeig, wie man die Straße überquert!«
Martin tappt an den Zebrastreifen und schaut absichtlich zuerst nach rechts. Oh, Martin ist echt der Härteste von uns allen.
»Nach links!«, schreit der Beamte. »Man sieht zuerst nach links!!«
Martin schaut nach links. Dann schaut er hinauf zum Himmel.
»Erst links, dann rechts«, schreit der Polizist. »Da oben ist nichts!«
»Es könnte aber etwas da sein«, sage ich.
»Ja«, sagt Martin, »eine Bananenschale zum Beispiel.«
Ich sage: »Ich habe einmal einen Film gesehen, da wird ein Junge von einem Flugzeugtriebwerk erschlagen.«
Martin sagt: »Ich weigere mich, diese Straße zu überqueren, bevor ich nicht den Flugplan von diesem Gebiet einsehen konnte!«
Markus sagt: »Muss man auf der anderen Straßenseite sterben?«
Es ist 8 Uhr 15, es ist kalt, und wir sind langsam in Hochform. Der Polizist kocht, er zittert, plötzlich zieht er seine Waffe und hält sie Markus an den Kopf. Er presst hervor: »Du gehst jetzt da rüber, oder dein Freund stirbt auf dieser Seite.«
Martin: »Mir egal. Ich mag ihn sowieso nicht.«
Oh, Martin ist so hart. Die Spannung steigt. Markus heult und ich weiß, ich muss jetzt handeln. Wie ein Springbock hechte ich dem Polizisten in den Arm, ich versuche ihm die Waffe abzunehmen. Da löst sich ein Schuss. Er trifft unsere Lehrerin. Gott sei Dank, denke ich, Markus ist gerettet. Der Polizist stürzt. Es ist 8 Uhr 16, es ist kalt und die Revolution ist gerade ausgebrochen. Wir fesseln den Polizisten und kleben ihm die Atemwege zu.
Es ist 8 Uhr 17. Die Sonne bricht durch die Wolken. Vor uns liegen die toten Körper unserer Unterdrücker. Martin tritt mit stolzem Schritt vor und steigt staatsmännisch auf den Rücken des Polizisten, um eine flammende Rede über die Freiheit zu halten. Mir rinnt eine Träne über die Wange. Markus heult sowieso schon die ganze Zeit. Wir sind bewegt. Als Martin vom Polizisten-Podium steigt, nimmt jeder von uns für einige Minuten seinen Platz ein. Wir halten den ganzen Tag Reden auf den Schultern des Polizisten. Wir reden, den ganzen Tag über, wir reden noch, als es schon dunkel wird, und selbst dann noch, als unsere Klassenkameraden schon nach Hause gehen. Wir reden.
Wir reden, denn die Welt ist unsere Bühne. Und nur hier sind wir frei.