Schattenschönheit

Zumindest einen Traum hat Wels mir schon erfüllt: Ich wohne jetzt in einem Gasthaus. Mit Gastgarten. Es ist, als hätte ich endlich meine Bestimmung gefunden, denn ich liebe alte Gasthäuser. Es sind wahre Abermann-Fallen, errichtet nur, um mich mit Küchendunst und Fassbier zu ködern. Kaum komme ich nur in ihre Nähe, entspinnt sich ein Spiel wie bei Odysseus und den Sirenen, und wenn man mich nicht an eine Zaunlatte bindet, sitze ich sofort im Gastgarten und schreie: „Sing mir, Kellner, von den Wundern der Tageskarte! Und kredenze mir etwas, was meine Leber dazu bringt, über sich hinauszuwachsen.“ Hymnen könnte ich diesen Häusern singen! Hier gab es schon eine 3-G-Regel, bevor überhaupt Gesundheitsminister erfunden waren: „Gastlichkeit, Geschmack und Garten“ haben schon manches Leben gerettet. Doch das Schönste sind ja nicht die wackligen Tischchen, die erst durch untergelegte Bierdeckel stabil werden, nicht das heimelige Knirschen unter den Füßen, wenn man in der Hitze des Sommers in Richtung der Schank wankt, und auch nicht die Holzvertäfelung, die vom Fett in der Luft jeden Tag neu eingelassen wird. Nein: Das schönste sind die Kastanienbäume.

Wenn stimmt, was behauptet wird, dann pflanzte man in Zeiten, als das Bier noch leicht verderblich war, Kastanien über die Biergärten, um die darunterliegenden Keller zu beschatten und zu kühlen, auf dass das Märzen auch im Sommer goldig schmecke. Das klingt vielleicht nach einer simplen Lösung, doch ich empfinde es als etwas herzerweichend Schönes: Einen Kastanienbaum zu pflanzen, damit er irgendwann in ferner Zukunft Schatten liefert – das ist eine Baumaßnahme mit wirklich langer Fertigstellungszeit. So etwas kennt man heute höchstens noch vom Berliner Flughafen Schönefeld.

Es gab also einmal Menschen, die pflanzten Bäume, unter denen sie selbst vielleicht niemals Bier trinken würden. Leute, die geduldig warten konnten, bis das, was sie wollten, eintreten würde. Und es gefällt mir, mir vorzustellen, dass vielleicht ein wenig von dieser vergessenen Eigenschaft in den Gasthäusern und -gärten weiterlebt: Dass hier vielleicht die Zeit ein wenig anders geht, etwas langsamer, beschaulicher – in der Art einer kulinarischen Relativitätstheorie, mit winzigen Verschiebungen im Baum-Zeit-Kontinuum. Und wenn man sich niederlässt in diesem Bierdunstkreis, dann kann man von diesem Wunder zehren. Eben solange, bis die Sperrstunde einen aus dem Paradies vertreibt.

(Erschienen als Stadtschreiberkolumne am in den OÖ-Nachrichten)