Der (Tier-)Garten der Lüste

Bei meinen ersten Welser Gehversuchen begleitete mich meine Familie. Es war also klar, dass wir im Tiergarten landen würden.

Es gibt Urlaub, und es gibt Urlaub mit Kindern. Während man vor der Fortpflanzung noch ausschließlich feingeistigste Kulturreisen unternahm, ist danach die Freizeitgestaltung eigenartig eingeschränkt: je nach Alter der Brut ist man entweder auf der Suche nach Spielplätzen oder dem nächsten Wlan-Hotspot.

Wird man dann doch aus dem Trott gerissen, ist man schlecht darauf vorbereitet. Etwa, als ich mit meinem Kind am Affengehege zu stehen kam und plötzlich jene schwerste aller Fragen auftauchte: Was machen diese zwei Affen da genau? Reiten die aufeinander?

Man erzählte mir später, dass dieselbe Frage auch schon einmal in einer Abordnung der Zeugen Jehovas aufgekommen sei, die vom Kongress im Messegelände einen Abstecher in den Tierpark unternommen hatten. Wobei ich gerne die Antwort gehört hätte, falls die Affen eventuell in einer Kombination zugange waren, die – nun ja – in der Arche Noah so noch nicht geläufig war.

Aber auch mich traf die Frage unerwartet – ich sagte verwirrt, dass die Tiere gerade „schmusen“ würden. Mit Sicherheit habe ich dadurch das Sexleben meines Kindes für immer verdorben.

Vielleicht hätte ich einfach in die Offensive gehen und mir eine bessere Erklärung ausdenken sollen? Ich hätte von einem magischen Tanz erzählen können, den die Affen aufführen, damit es Futter regnet. Für jedes Gehege hätte ich eine Geschichte erfinden können: Die Backenquasteln der Kunekune-Schweine sind eigentlich deren Jungtiere, die irgendwann abfallen und als fertige Ferkel davonwackeln. Die Rössel am Schachfeld sind eigentlich verwunschene Ponys, der Pfau macht nachts leise Gesangsübungen, um in die Musikschule nebenan aufgenommen zu werden, und wenn es irgendwo brennt in Wels, dann machen sich die Pelikane auf den Weg, mit dick gefüllten Schnabelsäcken, um aus der Luft das Feuer zu bekämpfen.

So betrachtet ist der Welser Tiergarten eigentlich eine Wiege des Geschichtenerzählens – weil Generationen von Welser Eltern sich hier etwas ausdenken mussten, um den Kindern die Schweinereien in den Gehegen zu erklären. Ein Ort des Wunderns aber auch, weil umgekehrt die Kinder begriffen, dass hinter jeder Antwort gleich ein neues Mysterium beginnt – eines, das man ein ganzes Leben lang nicht ganz begreifen kann. Und das alles mitten in Wels, und noch dazu bei freiem Eintritt.

Apropos Geschichten: Ich suche Menschen, die mir regionale Sagen und Legenden erzählen wollen. Falls Sie sich also mit Drachen und Fabelwesen auskennen, schreiben Sie mir doch bitte an: wels@stefanabermann.org. Falls Sie mir aber einfach Ihre liebsten (jugendfreien) Märchen aus dem Tiergarten erzählen möchten, freue ich mich auch darüber.

(Welser Kolumne #3, erschienen in den Oberösterreichischen Nachrichten)

Schattenschönheit

Zumindest einen Traum hat Wels mir schon erfüllt: Ich wohne jetzt in einem Gasthaus. Mit Gastgarten. Es ist, als hätte ich endlich meine Bestimmung gefunden, denn ich liebe alte Gasthäuser. Es sind wahre Abermann-Fallen, errichtet nur, um mich mit Küchendunst und Fassbier zu ködern. Kaum komme ich nur in ihre Nähe, entspinnt sich ein Spiel wie bei Odysseus und den Sirenen, und wenn man mich nicht an eine Zaunlatte bindet, sitze ich sofort im Gastgarten und schreie: „Sing mir, Kellner, von den Wundern der Tageskarte! Und kredenze mir etwas, was meine Leber dazu bringt, über sich hinauszuwachsen.“ Hymnen könnte ich diesen Häusern singen! Hier gab es schon eine 3-G-Regel, bevor überhaupt Gesundheitsminister erfunden waren: „Gastlichkeit, Geschmack und Garten“ haben schon manches Leben gerettet. Doch das Schönste sind ja nicht die wackligen Tischchen, die erst durch untergelegte Bierdeckel stabil werden, nicht das heimelige Knirschen unter den Füßen, wenn man in der Hitze des Sommers in Richtung der Schank wankt, und auch nicht die Holzvertäfelung, die vom Fett in der Luft jeden Tag neu eingelassen wird. Nein: Das schönste sind die Kastanienbäume.

Wenn stimmt, was behauptet wird, dann pflanzte man in Zeiten, als das Bier noch leicht verderblich war, Kastanien über die Biergärten, um die darunterliegenden Keller zu beschatten und zu kühlen, auf dass das Märzen auch im Sommer goldig schmecke. Das klingt vielleicht nach einer simplen Lösung, doch ich empfinde es als etwas herzerweichend Schönes: Einen Kastanienbaum zu pflanzen, damit er irgendwann in ferner Zukunft Schatten liefert – das ist eine Baumaßnahme mit wirklich langer Fertigstellungszeit. So etwas kennt man heute höchstens noch vom Berliner Flughafen Schönefeld.

Es gab also einmal Menschen, die pflanzten Bäume, unter denen sie selbst vielleicht niemals Bier trinken würden. Leute, die geduldig warten konnten, bis das, was sie wollten, eintreten würde. Und es gefällt mir, mir vorzustellen, dass vielleicht ein wenig von dieser vergessenen Eigenschaft in den Gasthäusern und -gärten weiterlebt: Dass hier vielleicht die Zeit ein wenig anders geht, etwas langsamer, beschaulicher – in der Art einer kulinarischen Relativitätstheorie, mit winzigen Verschiebungen im Baum-Zeit-Kontinuum. Und wenn man sich niederlässt in diesem Bierdunstkreis, dann kann man von diesem Wunder zehren. Eben solange, bis die Sperrstunde einen aus dem Paradies vertreibt.

(Erschienen als Stadtschreiberkolumne am in den OÖ-Nachrichten)

Meine Freundin heißt Wels

Welser Kolumne #1 – erschienen am 15.7.21 in den Oberösterreichischen Nachrichten.

In den meisten Beziehungen gibt es irgendwann einen ganz besonders folgenschweren Moment: Man lernt die Schwiegereltern kennen. Plötzlich hat man das Gefühl, dass es „ernst“ werden könnte, und das gurrende Turteltäubchen im Herzen wächst plötzlich zu einer waschechten Beziehungswachtel heran. Mein Vater nannte es damals, mehrere Male, die „präeheliche Präsentation“. Ein Treffen, bei dem alles möglich ist: Heiße Liebe oder sofortiges Schlussmachen; ein Treffen, dessen Charme sich zwischen herzlichem Beschnuppern und einem Krisengipfel während des Kalten Krieges bewegt.

Während ich dies schreibe, bin ich noch gar nicht in Wels angekommen. Doch gerade deshalb habe ich das Gefühl, es stünde genau dieses Krisentreffen unmittelbar bevor. Meine neue Freundin heißt Wels – aber was soll ich tun, wenn die Eltern mich nicht mögen?

Wenn ich gleich zum Einstand in irgendein Fettnäpfchen trete und den Fuß nicht mehr herausbekomme? In den heutigen Zeiten ist ohnehin jeder Familienbesuch ein Minenfeld. Plötzlich kommen Dinge ans Tageslicht, die ungeahnte Sprengkraft besitzen: Der Cousin geht auf Corona-Demos, die Schwiegermutter betreibt Schamanenheilung und der -Vater prüft mich vielleicht über das Gesamtwerk Hermann Nitschs ab! Was, wenn Geschichtliches abgefragt wird? Österreichische Parteienhistorien? Nicht auszudenken.

Und was, wenn ich die Prüfung nicht bestehe? Werde ich zurückgeschickt wie eine voreilige Online-Bestellung? Rücksendegrund: Passt nicht? Falsche Farbe? Sieht anders aus als auf den Fotos? Werde ich in irgendeinem Writer-Return-Center verschrottet oder muss zukünftig Presseaussendungen fürs Welser Kulturamt schreiben? Wird vielleicht bei der Jury des Stadtschreiberpostens nochmals reklamiert? Oder schlachtet man die paar Teile aus, die man an mir noch verwenden kann, und wirft dann den Rest in die Traun?

Zusätzlich besteht bei dem Treffen die Gefahr, dass man in den Schwiegereltern vielleicht Dinge entdeckt, die einen an den Partner erinnern. Wie in einer Glaskugel sieht man, wohin sich der geliebte Mensch entwickeln könnte. Oder schlimmer noch: Man entdeckt Ähnlichkeiten zu sich selbst und fragt sich: Warum hat meine Freundin gerade mich gewählt? Sehe ich aus, als stünde ich auf Schamanenheilung?

Wenn einmal diese Saat des Zweifels gepflanzt ist, wird es schwer, sie aus dem Beet zu bekommen – dafür liegt man im Bett bald wieder alleine. Darum muss man sich fest daran erinnern, dass doch jedem Anfang ein Zauber innewohnt. Man muss die eigenen Ängste überwinden, um sich überhaupt im anderen finden zu können. Also, Wels, ich bin gespannt auf dich. Gib mir die Hand, lass dich herzen, lass uns reden.

Und sollten Sie tatsächlich Schamanenheilung betreiben – bitte melden Sie sich bei mir. Ich wäre gespannt auf ein Kennenlernen.

Plötzlich Stadtschreiber

Da steht man mitten in einem Einkaufszentrum, plötzlich läutet das Telefon und einen Moment später ist man Welser Stadtschreiber. Seitdem rotieren in meinem Kopf ständig Wortspiele zu Fischen und Flüssen, und ich schmiede Pläne, wie ich mir vielleicht Leberkaspepi-Lieferungen in meine Schreibenklave organisieren könnte. Aber ich bin sicher, das wird Welsklasse, man muss sich nur Traun.

https://www.nachrichten.at/oberoesterreich/wels/poetry-slammer-aus-tirol-ist-neuer-stadtschreiber;art67,3396906